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Das Leben mit einem Deprivationshund - wenn Stress & Angst zur Tagesordnung gehören

Es ist ein warmer Sommertag. Menschenmengen tummeln sich auf den Straßen, Kinder rennen lachend umher, Hunde toben im Park. Klingt perfekt, oder?

Für uns und unseren Tierschutzhund Carlos ist diese Vorstellung der reinste Albtraum. Warum? Weil Carlos unter dem Deprivationssyndrom leidet. Er ist ein Hund, der mit den meisten Reizen und Situationen im Alltag völlig überfordert ist. Ob Fußgänger, Fahrradfahrer, LKW oder andere Hunde – Carlos begegnet all dem mit einer Mischung aus Unsicherheit und Aggression.

In diesem Beitrag möchten wir Dich in die Welt eines Deprivationshundes entführen. Wir erzählen Dir, wie wir auf das Deprivationssyndrom gestoßen sind und was es bedeutet, mit so einem Hund wie Carlos zusammenzuleben.

Die Diagnose “Deprivationssyndrom”

Die Diagnose „Deprivationssyndrom“ war für uns kein Schock, eher die langersehnte Antwort auf so viele Fragen. Nach Carlos´ Ankunft im August 2020 tappten wir fast vier Monate völlig im Dunkeln. Wir hatten keine Ahnung, warum Carlos so reagierte und wie wir ihm helfen können. Alle Hundetrainer, denen wir uns anvertraut hatten, hatten uns damit vertröstet, dass Carlos einfach keinen Respekt vor uns hat. Er ist ein Blender und sein Verhalten nur die Folge von mangelnder Erziehung. Worte wie „Unsicherheit“ oder „Angst“ kamen nie auf.

Unsere Tierärztin hatte uns dann im Dezember 2020 eine befreundete Tierärztin empfohlen, die sich auf die Verhaltenskunde von Hunden spezialisiert hat und gerade im Umgang mit Tierschutzhunden eine Koryphäe sei. Viel bildeten wir uns darauf aber nicht ein. Die Hundetrainer davor wurden auch in den höchsten Tönen gelobt und letztlich waren sie nichts weiter als eine reine Zeit- und Geldverschwendung.

Diese Frau ging aber einen völlig anderen Weg. Mit ihrem umfassenden Fachwissen und ihrer Expertise im Umgang mit schwierigeren Hunden analysierte sie Carlos‘ Verhalten bis ins Detail. Statt stumpf Symptome zu bekämpfen, betrieb sie tiefgehende Ursachenforschung. So stand die Diagnose „Deprivationssyndrom“ schon bald fest – ein Syndrom, das bei Hunden aus dem Tierschutz übrigens häufig vorkommt.

Unter dem Deprivationssyndrom versteht man eine Entwicklungsstörung beim Hund, die aufgrund fehlender Reize im prägenden Welpenalter auftritt. Der Hund war in dieser Prägephase keinen bis wenigen entwicklungsnotwendigen Reizen ausgesetzt, wodurch sich das Gehirn nicht optimal entwickeln konnte. Dadurch hat er nicht gelernt, dass verschiedene Umwelt- und Sozialreize keine Bedrohung für ihn darstellen. Die Deprivationsschäden können je nach Schweregrad ein Leben lang bestehen.

Die Ärztin diagnostizierte bei Carlos ein „Teil-Deprivationssyndrom“. Sie erklärte uns, dass Carlos‘ Zustand zwar herausfordernd sei, aber mit Geduld und gezielten Umstrukturierungen unseres Alltags die Chance auf ein stressärmeres Leben für ihn bestehe.

Der Deprivationshund ist los - Ein typischer Spaziergang

Doch wie zeigt sich das Deprivationssyndrom ganz genau im Alltag? Und wie sieht unser Training aus?

Das Deprivationssyndrom äußert sich bei jedem Hund unterschiedlich. Der Mangel an Erfahrungen und Reizen in der frühen Entwicklung führt zu ganz individuellen Bewältigungsstrategien. Unser Carlos reagiert auf alles, was ihn verunsichert, mit reaktivem Verhalten. Er bellt, springt in die Leine, stellt seinen Kamm auf und signalisiert unmissverständlich: Bleib auf Abstand!

An belebten Sommertagen gleichen unsere Spaziergänge nicht selten Spießrutenläufe, da wir Carlos nur in Situationen bringen, die er leisten kann. Allem anderen weichen wir (so gut es geht) aus.

Es wird Dich daher kaum überraschen, dass wir uns über Regen oder Hagel tatsächlich freuen. Je schlechter das Wetter, desto leerer sind Straßen und Wege – ideale Bedingungen für entspannte Gassirunden.

Begegnen wir einem Reiz, heißt es: Beobachten, einschätzen und reagieren. Über die Jahre haben wir ein feines Gespür dafür entwickelt, die Signale von Carlos und anderen Menschen zu deuten – wohin sie sich bewegen und ob sie vielleicht einen Hund dabeihaben. Ist Letzteres der Fall, schaffen wir so viel Abstand wie möglich. Carlos benötigt eine große Distanz zu jeglichen Reizen. Nur, wenn diese Wohlfühldistanz eingehalten wird, kann er positive Erfahrungen sammeln.

Ein weiterer entscheidender Faktor sind die Zeiten, zu denen wir spazieren gehen. Wir vermeiden Stoßzeiten wie den Berufsverkehr oder Schulschluss. Stattdessen wählen wir bewusst „ungerade“ Uhrzeiten, etwa 18:36 Uhr statt 18:30 Uhr. Menschen neigen dazu, zu runden Zeiten aus dem Haus zu gehen – und das versuchen wir zu umgehen.

Auch die Orte spielen eine wichtige Rolle. Parks, Innenstädte oder Wohngebiete sind für uns tabu: Zu wenige Ausweichmöglichkeiten, zu viele Menschen, zu wenig Übersicht. Stattdessen sind wir im Wald zu Hause. Dort kann Carlos seinen Bedürfnissen weitestgehend ungestört nachgehen. Sollte eine Begegnung unvermeidbar sein, haben wir so immer noch die Möglichkeit, seitlich in den Wald auszuweichen.

Du siehst: Unsere Gassirunden sind von sehr viel Management geprägt.

Das Training mit einem Deprivationshund

Vielleicht fragst Du Dich jetzt: „Aber wie soll Carlos lernen, mit Reizen umzugehen, wenn ihr immer ausweicht?“

Das ist eine berechtigte Frage, aber: Carlos‘ Wohlfühldistanz zu Reizen ist enorm groß. Menschen? Da reicht inzwischen ein Wechsel auf die andere Straßenseite. Andere Hunde? Dafür braucht Carlos je nach Hund 50-70m Abstand, um sich wohl und sicher zu fühlen.

Unser Ziel ist es, diese Distanz schrittweise zu verkleinern. Das dauert Monate oder auch Jahre. Wir können die fehlende Erfahrungen in der Prägephase nicht mehr nachholen. Wir können Carlos nur Strategien an die Hand geben, um sich im wusligen Alltag zurechtzufinden. Carlos darf lernen, dass er uns als Vertrauenspartner an seiner Seite hat, wir seine Bedürfnisse & Ängste ernst nehmen und sein reaktives Verhalten nicht die einzige Option ist. Dieses Vertrauen aufzubauen, ist ein Marathon und kein Sprint.

Ein zentrales Hilfsmittel unseres Trainings ist die Futtertube. Diese haben wir gemeinsam mit unserer Trainerin schrittweise antrainiert.

Durch die Futtertube hat Carlos während einer Begegnung eine Aufgabe, auf die er sich konzentrieren kann. Das Schlecken ist jedoch nicht nur ein nettes Alternativerhalten, sondern auch ein echtes Glückserlebnis. Warum? Weil beim Schlecken Endorphine (= Glückshormone) im Gehirn freigesetzt werden, die für ein Glücksgefühl sorgen. Somit werden in Carlos´ Körper nicht nur Stresshormone ausgeschüttet, sondern auch jede Menge Glückshormone, die ihn im Abbau seines Stresslevel unterstützen sollen.

Tube Hund Schlecken

Unser Training besteht somit darin, sobald ein Reiz auftaucht, in erster Linie für eine ausreichende Distanz zu sorgen und dann Carlos an der Futtertube schlecken zu lassen, bis der Reiz verschwunden ist. Erst, wenn Carlos wieder etwas zur Ruhe gekommen ist, kann die Runde fortgesetzt werden.

Die Folgen des Deprivationssyndroms abseits der Gassirunden

Was das Deprivationssyndrom für unsere Gassirunden bedeutet, weißt Du nun. Doch wie wirkt es sich auf den Rest unseres Alltags aus?

Besuche – egal, ob wir Gäste empfangen oder selbst eingeladen sind – sind ein echter Kraftakt. Nur mit sorgfältiger Vorbereitung und viel Management können wir solche Situationen überhaupt meistern. Deshalb halten wir Treffen mit Familie und Freunden so kurz wie möglich. Nicht zuletzt, weil Carlos nach solchen Ereignissen bis zu 7 Tage braucht, bis er sich davon wieder erholt hat.

In den Urlaub fahren, ins Café gehen oder entspannt im Park auf einer Decke sitzen? Derzeit undenkbar und vielleicht auch nie machbar. Neue Umgebungen überfordern Carlos - vor allem durch die vielen unbekannten Gerüche. Daher laufen wir meist dieselben Strecken, bis Carlos sich daran gewöhnt hat. Erst dann wagen wir kleine Schritte in neue Gebiete.

Einen Deprivationshund zu haben ist eine immense Verantwortung, die nicht zu unterschätzen ist. Bevor wir die Diagnose erhielten und einen klaren Trainingsansatz hatten, verloren wir viel Lebensqualität & Lebensfreude.

Mit einem Hund wie Carlos bedeutet das Leben, flexibel zu sein, die eigenen Bedürfnisse hintenanzustellen und den Alltag an einen Hund anzupassen. Geduld ist unerlässlich, denn das Deprivationssyndrom fordert uns immer wieder auf´s Neue heraus - und das ein Hundeleben lang.

Seit 4,5 Jahren sind wir nun Carlos‘ Begleiter. Diese Zeit brachte uns viel Traurigkeit, aber auch viele wertvolle Momente. Es bleibt defintiv eine Herausforderung, aber man wächst tagtäglich daran. Mittlerweile sind wir ein eingespieltes Team und wissen, wie wir Carlos durch die Hürden des Alltags manövrieren können - ohne uns dabei nicht selbst verlieren.

Unsere Trainerin war dabei ein Segen. Ohne ihre Unterstützung hätten wir diese Reise wohl nicht überstanden. Sie hat uns nicht nur geholfen, sondern uns allen ein Stück Lebensqualität zurückgegeben. Ohne sie hätten wir den Kampf gegen das Deprivationssyndrom vielleicht schon verloren, bevor er überhaupt begonnen hatte.

Wer schreibt?

Hi, wir sind Nikolas & Lisa und gemeinsam mit unserem Tierschutzhund Carlos haben wir 2021 rabaukenglück gegründet. Auf Instagram und in unserem Podcast „rabauken Radau“ lassen wir andere Hundebesitzer offen & ehrlich an unserem Leben mit Carlos teilhaben und geben hilfreiche Tipps & Reminder für einen positiven & achtsamen Alltag mit Hund.

Noch mehr über unseren (Hunde-) Alltag erfährst Du hier:

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#2 Unser Leben im Stressglas

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#7 Problemhund oder Problemumgebung? Die Macht der Begriffe im Hundealltag