Das Stressglas: So erkennst du die Belastungsgrenze deines Hundes
Jeder Hund hat eine individuelle Grenze, wie viel er an Reizen und Stress bewältigen kann. Manche sind nach einem Spaziergang völlig entspannt, andere brauchen deutlich mehr Zeit & Unterstützung, um sich davon zu erholen und ihre Kapazitäten für den nächsten Spaziergang aufzuladen. Wie du diese Belastungsgrenze erkennst und deinem Hund hilfst, Stress abzubauen, erfährst du in diesem Beitrag.
Wir zeigen dir, wie das Konzept des Stressglases funktioniert, woran du erkennst, dass es bei deinem Hund voll ist, und warum es so überhaupt so wichtig ist, das Stressglas deines Hundes im Blick zu behalten.
Die Löffeltheorie: Begrenzte Ressourcen verstehen
Um das Stressglas deines Hundes zu verstehen, schauen wir zunächst auf die Löffeltheorie, die als Grundlage dient. Ursprünglich wurde sie für chronisch kranke Menschen entwickelt, um aufzuzeigen, wie begrenzt ihre Ressourcen im Alltag sind. Die Theorie von Christine Miserandino besagt, dass jeder Mensch pro Tag nur eine bestimmte Anzahl an „Löffeln“ zur Verfügung hat, die er sich gut einteilen muss. Selbst vermeintlich simple Aufgaben wie Zähneputzen oder Einkaufen kosten Löffel. Sind die Löffel aufgebraucht, ist keine Energie mehr übrig.
Dieses Konzept lässt sich hervorragend auf Hunde übertragen. Was bei einem Menschen ein Einkauf ist, kann bei einem Hund eine Begegnung mit einem anderen Hund sein. Jeder Umweltreiz kostet Löffel. Wie viele Löffel ein Hund pro Tag zur Verfügung hat, hängt von verschiedenen Faktoren ab, z.B. von seiner Vergangenheit. Manche Hunde haben mehr Löffel, andere weniger – und während der eine Hund eine Hundebegegnung mit einem einzigen Löffel meistert, verbraucht ein anderer Hund gleich die Hälfte seiner Ressourcen.
Der Unterschied zu uns Menschen: Hunde können sich ihre Löffel nicht selbst einteilen. Deshalb ist es unsere Aufgabe als Halter, ihre Ressourcen genau im Blick zu haben und ihren Alltag entsprechend anzupassen.
Was ist das Stressglas?
Das Stressglas baut auf der Löffeltheorie auf und ist eine bildhafte Darstellung der Belastungsgrenze deines Hundes. Stell dir vor, jeder Reiz – sei es ein lautes Geräusch, eine Hundebegegnung oder ein neuer Gassiort – füllt das Glas ein Stück mehr. Sobald das Glas überläuft, kann Dein Hund keine weiteren Reize mehr aufnehmen. Die Folge: Er ist überfordert und überreizt.

Dabei ist wichtig zu wissen: Nicht alle Hunde sind gleich. Einem Hund wie Carlos, der aufgrund seines Deprivationssyndroms schnell gestresst ist, kosten selbst scheinbar einfache Situationen viele Ressourcen. Bei gut sozialisierten Hunden hingegen, die von klein auf an verschiedene Reize gewöhnt wurden, füllt sich das Stressglas langsamer und sie können es auch schneller wieder leeren. Wichtig ist auch, dass sich die Größe des Stressglases über die Zeit verändern kann. Mit gezieltem Training, positiven Erfahrungen und einem fairem Umgang kann Dein Hund lernen, besser mit Stress umzugehen, sodass sein Glas langfristig „größer“ wird.
Positiver vs. negativer Stress: Der Unterschied macht’s
Stress ist nicht gleich Stress. Für deinen Hund gibt es zwei Arten, die sich unterschiedlich auf ihn auswirken:
Negativer Stress: Er entsteht durch Reize, die dein Hund als belastend / unangenehm empfindet, wie beispielsweise enge Hundebegegnungen, laute Geräusche oder hektische Situationen. Diese Stressoren nehmen Platz im Stressglas ein.
Positiver Stress (Eustress): Das ist der „gute Stress“, der entsteht, wenn dein Hund eine aufregende, aber angenehme Erfahrung macht – etwa ein gemeinsames Spiel oder ein Ausflug an einen spannenden, aber nicht überfordernden Ort. Positiver Stress kann das Glas ebenfalls füllen, trägt aber langfristig dazu bei, dass Dein Hund leistungsfähiger und belastbarer wird. Positiver Stress ist unverzichtbar für die (Weiter-) Entwicklung eines Hundes.
Wir achten bei Carlos darauf, zwischen diesen beiden Stressarten zu unterscheiden. Während positiver Stress für seine Entwicklung elementar ist, versuchen wir negativen Stress soweit wie möglich zu vermeiden. Das bedeutet, dass wir seinen Alltag so gestalten, dass er mit den Situationen, die wir ihm zumuten, gut zurechtkommt und nicht unnötig viel (negativem) Stress ausgesetzt ist.
Woran erkennst Du, dass das Stressglas voll ist?
Ein volles Stressglas zeigt sich durch verschiedene Verhaltensweisen. Bei Carlos machen wir das daran fest, dass Dinge, die eigentlich schon gut funktionieren, auf einmal schwieriger werden. Er zieht mehr an der Leine, nimmt sich kaum mehr Zeit zum Schnüffeln und schaut uns mit seinem typischen „Stressgesicht“ an. Das ist für uns ein klares Signal, dass sein Stressglas voll ist und er eine Pause braucht.
Vermehrte Reaktivität: Der Hund reagiert plötzlich stärker auf Reize, die ihm zuvor keine großen Probleme bereitet haben. Beispielsweise wird eine Hundebegegnung, die sonst entspannt ablief, auf einmal zur Herausforderung.
Höheres Stresslevel: Ein „Stressgesicht“ mit weit aufgerissenen Augen, steifem Körper und vermehrtem Hecheln.
Überreaktionen: Starkes Ziehen an der Leine, übermäßiges Bellen oder vermehrte Angst.
Unruhe und Übersprungshandlungen, wie z.B. Kratzen, Gähnen oder Aufreiten.
Wie kannst Du das Stressglas Deines Hundes leeren?
Wenn das Stressglas voll ist, braucht dein Hund Zeit, um zur Ruhe zu kommen und das Erlebte zu verarbeiten. Hier sind einige Strategien, die unserem Hund Carlos helfen:
Reizarme Spaziergänge: Wir gehen bewusst an Orten spazieren, die wenig Ablenkungen bieten. Besonders hilfreich sind One-Way-Strecken, bei denen der Rückweg identisch mit dem Hinweg ist, damit Carlos nicht zusätzlich neuen Reizen ausgesetzt ist.
Pausentage einlegen: An bzw. nach stressigen Tagen verzichten wir auf größere Unternehmungen und schaffen ein ruhiges Umfeld. Keine Besuche, keine Ausflüge – stattdessen gönnen wir Carlos die Zeit, die er braucht, um wieder Platz im Stressglas zu machen.
Konditionierte Entspannung: Mit einem konditionierten Geruch unterstützen wir Carlos dabei, schneller zur Ruhe zu kommen. Diese Methode hat sich besonders an Tagen bewährt, an denen er nur schwer abschalten kann.
Bedürfnisorientiertes Hundetraining: Warum es bei uns kein „Da muss er durch“ gibt
Für uns hat Carlos’ Wohlbefinden oberste Priorität. Ein bedürfnisorientierter Umgang bedeutet für uns, sein Stressglas stets im Blick zu behalten und ihn nicht unnötig in Situationen zu bringen, die ihn überfordern. Vor größeren Ereignissen wie einem Tierarztbesuch oder einem Familienfest sorgen wir dafür, dass Carlos sowohl davor als auch danach genügend Zeit bekommt, um sich zu erholen und das Erlebte zu verarbeiten. So ermöglichen wir es ihm, diese Herausforderungen besser zu bewältigen, ohne dass er dauerhaft gestresst wird. Gleichzeitig minimieren wir das Risiko, dass er negative Erfahrungen mit potenziellen Triggern macht.
Fazit: Das Stressglas als Schlüssel zu einem ausgeglichenen Hund
Das Stressglas ist mehr als nur eine Metapher – es ist ein wertvolles Werkzeug, um die Belastungsgrenze deines Hundes besser zu verstehen und seinen Alltag bedarfsgerecht zu gestalten. Dabei ist wichtig: Kein Stress ist auch keine Lösung. Ein Hund braucht Reize und Herausforderungen, um zu lernen und seine Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Der Schlüssel liegt in der Balance zwischen positiven Erfahrungen und angemessenen Pausen.
Ein dosierter Umgang mit Stress ermöglicht es deinem Hund, Lernerfolge zu erzielen und sich in einer “reiz”-vollen Welt zurechtzufinden. Wo nur negativer Stress herrscht, ist kein Lernen möglich – dort sind Überforderung und Frustration die Folge. Deshalb ist es so wichtig, das Stressglas deines Hundes stets im Blick zu behalten.

Wer schreibt?
Hi, wir sind Nikolas & Lisa und gemeinsam mit unserem Tierschutzhund Carlos haben wir 2021 rabaukenglück gegründet. Auf Instagram und in unserem Podcast „rabauken Radau“ lassen wir andere Hundebesitzer offen & ehrlich an unserem Leben mit Carlos teilhaben und geben hilfreiche Tipps & Reminder für einen positiven & achtsamen Alltag mit Hund.
Das könnte Dich auch interessieren:

#2 Unser Leben im Stressglas

Das Leben mit einem Deprivationshund - wenn Stress & Angst zur Tagesordnung gehören
31.12.2024
Dieser Beitrag wird Dich in die Welt eines Deprivationshundes entführen, Dir einerseits aufzeigen, wie wir das Deprivationssyndrom bei Carlos entdeckt haben und anderseits zeigen wir Dir, was es bedeutet, einen Hund zu haben, der auf alles und jeden aggressiv reagiert.

Digitales Set "Achtsam mit Hund" (5-teilig)
6,00 €

Konditionierte Entspannung: Wie Gerüche Deinem Hund zu mehr Entspannung verhelfen
12.12.2024
Hunde nehmen ihre Welt mit der Nase wahr – das ist kein Geheimnis. Aber wusstest du, dass du diese Fähigkeit nutzen kannst, um deinem Hund zu mehr Entspannung zu verhelfen? Wir zeigen Dir, wie das funktioniert – und wie wir es mit unserem Hund Carlos trainiert haben.